Vielfalt im Ganztag gestalten
Begrüßungsrede von Dr. Christian Schmidt-Rost anlässlich des Parlamentarischen Abends am 19. Juni 2024 (Text als pdf)
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren Landtagsabgeordnete,
sehr geehrte Staatssekretärin Dr. Stenke,
sehr geehrter Staatssekretär Wendt,
sehr geehrter Staatssekretär Albig,
liebe alle, die Sie bereit sind, sich für die ganztägige Förderung von Grundschulkindern einzusetzen,
wir freuen uns sehr, Sie heute zur gemeinsamen Abendveranstaltung im Schleswig-Holsteinischen Landeshaus begrüßen zu dürfen, obwohl die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Herren ein EM-Spiel bestreitet. Der heutige Abend ist ein besonderer, weil er von über 20 Verbänden, Organisationen und Netzwerken aus verschiedenen Feldern gemeinsam erdacht wurde und somit eher nicht in klassische Veranstaltungsraster passt. Sie fragen sich vermutlich:
- Wie hat diese heterogene Gruppe zusammengefunden?
- Was ist das Ziel dieser Veranstaltung?
- Und warum hat die Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Schleswig-Holstein oder kurz LKJ SH e.V. die Koordination übernommen?
Gerne möchte ich Ihnen diese drei Fragen kurz beantworten.
Lassen Sie mich mit der für mich einfachsten Frage beginnen.
Warum hat sich die Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Schleswig-Holstein e.V. bereit erklärt die Koordination des heutigen Abends zu übernehmen?
Es sind zwei zentrale Gründe: Erstens, Ganztag kann sich für die außerschulische kulturelle Bildung in Schleswig-Holstein zu einer Chance oder einer Bedrohung entwickeln. Wir wollen es so mitgestalten, dass es eine Chance wird. Zweitens, als LKJ SH sind wir es gewohnt in heterogenen Bündnissen zu arbeiten. Denn wir sind das Dach der verschiedenen Spartenverbände und landesweit aktiven Organisationen der kulturellen Bildung. Von außerschulischen Bildungsstätten über Filmpädagogik, Literatur & Leseförderung, Kunst und Musik in allen erdenklichen Variationen, Spielmobil-Arbeit, Tanz, Theater bis zu Zirkus ist alles dabei. Durch diesen bunten Strauß haben wir gelernt auch zwischen auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Strukturen nach gemeinsamen Interessen zu suchen. Zudem tragen wir zwei Angebote, die nur in Bündnissen funktionieren: Die Koordination der Freiwilligendienste Kultur und Bildung und die Servicestelle „Kultur macht stark“ Schleswig-Holstein. Bei den Freiwilligendiensten müssen wir die Interessen von landesweit gut 130 Einsatzstellen aus den Bereichen Kultur, Politik und Schule, mit den Interessen der Freiwilligen, der Förderer und des bundesweiten Trägerverbunds in Einklang bringen. Die Servicestelle „Kultur macht stark“ Schleswig-Holstein berät Organisationen, die in einem Bündnis mit zwei weiteren Partnereinrichtungen beispielswiese Projekte der kulturellen Bildung im Ganztag mit Bundesmitten finanzieren wollen. Kristin König, die heute auch anwesend ist, berät Sie gerne dazu. Gemeinsam ist unseren Angeboten und den Angeboten unserer Mitglieder, dass diese nachweislich einen Beitrag zur Persönlichkeitsstärkung und zur Demokratiebildung der Teilnehmenden leisten. Zusammengefasst lautet die Antwort auf die erste Frage, auf der inhaltlichen Ebene: Die Ausgestaltung des Rechtsanspruchs ist für die Szene der kulturellen Bildung ebenso wie für die Kinder in Schleswig-Holstein wichtig. Auf der organisatorischen Ebene: Wir von der LKJ sind Profis für partizipative Koordination heterogener Gruppen und das Gestalten von kreativen Prozessen und Lösungen. Wie gut sie darin sind, haben bei der Vorbereitung dieses Abends ganz besonders Kristin König, Lena Patent und Jörg Walter-Thurm gezeigt. Dafür möchte ich ihnen ganz herzlich danken.
Zur zweiten Frage:
Wie hat diese heterogene Gruppe der Veranstaltenden zusammen gefunden?
Die gesetzliche Verankerung des Anspruchs auf ganztägige Förderung von Kindern im Grundschulalter im Herbst 2021 hat in vielen Bereichen, die mit Grundschulkindern arbeiten, ambivalente Gefühle ausgelöst. Sport, Kulturelle Bildung, Jugendverbandsarbeit war bewusst: Dieses Gesetz hat das Potential, das eigene Feld grundlegend zu verändern. So wurden Fachtage veranstaltet und Positionspapiere geschrieben. Bald waren zwei Punkte klar: 1. Ohne die Wohlfahrtsorganisationen funktioniert kein Ganztagsangebot. 2. Wenn Kulturelle Bildung, Sport und Jugendverbandsarbeit eingebunden sind, wird Ganztag für die Kinder und Jugendlichen viel besser.
Anfang 2023 initiierten wir daher eine informelle Austauschrunde zum Ganztag mit Kultureller Bildung, Wohlfahrt, Sport und Jugendverbandsarbeit. Am Anfang ging es vor allem um den Informationsaustausch über den Prozess. In den regelmäßigen Videokonferenzen wuchs Vertrauen und ein Verständnis dafür, dass wir unterschiedliche Rollen im Ganztag übernehmen wollen, aber ein gemeinsames Ziel haben: Im Sinne der Kinder streben wir alle eine möglichst hohe Qualität des Ganztagsangebots überall in Schleswig-Holstein an. Was bedeutet das?
Qualität des Ganztagsangebots vom Kind aus denken
Qualität bedeutet für uns vom Kind aus gedacht: Jedes Kind kann unabhängig von der ökonomischen Situation seiner Eltern an der ganztätigen Förderung teilnehmen. Jedes Kind kann zu seinen Fachkräften Vertrauen aufbauen, weil diese langfristig im Ganztag arbeiten und entsprechend bezahlt werden. Jede Fachkraft im Ganztag ist nur für so viele Kinder zuständig, dass jedes Kind auch ruhige Momente für ein Gespräch mit seiner Vertrauensfachkraft haben kann. Jedes Kind erhält eine warme Mahlzeit in angenehmer Atmosphäre. Jedes Kind kann Rückzugs- und Ruheräume nutzen. Jedes Kind kann in Wahlangeboten aus Kultureller Bildung und Sport seine Interessen entwickeln und schärfen sowie Selbstwirksamkeit erfahren. Jedes Kind kann sich für die Hausgaben Hilfe holen. Jedes Kind kann im Rahmen von Wahlangeboten wie beispielsweise den Pfadfindern die Umgebung entdecken oder die Jugendfeuerwehr kennenlernen. Qualität bedeutet für uns außerdem, dass Kinder von halbwegs entspannten Eltern abgeholt werden, weil diese wissen, dass ihre Kinder an einem Ort sind, an dem sie sich wohlfühlen.
Daraus ergibt sich zusammenfassend auch: Um gleichwertige Lebensbedingungen in allen Landesteilen zu erreichen, müssen Rahmenbedingungen wie Betreuungsschlüssel, Mindestanforderungen an Räume und Personal ebenso wie der Anspruch auf Wahlangebote aus den Bereichen Sport und Kultureller Bildung sowie eine Anbindungsmöglichkeit für die Jugendverbandsarbeit im Landesrecht geregelt werden. Es versteht sich von selbst, dass dies auch mit einer gemeinsamen Finanzierung durch die verschiedenen Ebenen einhergehen muss.
Zur dritten Frage:
Und was ist das Ziel unserer heutigen Veranstaltung?
Wir wollen Ihnen, sehr geehrte Mitglieder des Landtags und der Landesregierung ebenso wie Ihnen geschätzten Vertreter*innen aus der kommunalen Familie, Mut machen. Mut, die ganztätige Förderung von Kindern bei den schwierigen Haushaltsberatungen hoch zu priorisieren und gemeinsam Strategien für einen erstklassigen Ganztag zu entwickeln. Denn eine qualitativ hochwertige ganztägige Förderung von Kindern im Grundschulalter hat nachweislich positive Effekte auf viele gesellschaftliche Bereiche wie Bildungsgerechtigkeit, Fachkräfte-Gewinnung, Integration, Armutsrisiko von Alleinerziehenden und Frauen im Alter sowie gesellschaftlicher Zusammenhalt, um nur einige zu nennen.
Ganztag als Katalysator für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Auf den Punkt “gesellschaftlicher Zusammenhalt” möchte ich zum Schluss meiner Redezeit noch kurz eingehen: Unsere Grundschulen sind mittlerweile die einzigen Orte, an denen Menschen aller Milieus aufeinandertreffen und zusammenarbeiten müssen. Deswegen kann ein Ganztagsangebot, das als sozialer Knotenpunkt gedacht und gelebt wird, die Wirkung eines Katalysators für gesellschaftlichen Zusammenhalt entfalten.
Wenn die Ganztagskoordination an der Schule ein Netz zu Sportvereinen, Musikschulen, Tanzschulen, Spielmannszügen, Theatern, Fab-Labs, Kommunalen Kultureinrichtungen, Jugendrotkreuz, Pfadfindern, Jugendfeuerwehr, DLRG und weiteren Akteuren knüpft, dann besteht die Chance, dass auch Kinder in Vereine und Organisationen hineinwachsen, die dort bisher nicht hingefunden hätten. Zugleich bietet es einen Ansatz für die Nachwuchsprobleme in vielen Organisationen und nimmt uns die Sorge vor dem Verlust der Grundschulkinder in den Angeboten. Weiter kann ein solches Konzept einen Beitrag leisten, das enorme Problem der Fachkräfte für den Ganztag zu entschärfen. Sicherlich kommt jetzt gleich der Einwand, dass viele dieser Angebote von Berufstätigen im Ehrenamt gemacht werden. Aber ich denke, wenn wir es wirklich wollen, ließen sich auch dafür kreative Lösungen finden. Wenn wir Ganztag nicht nur als Raum zum Abbau schulischer Defizite denken, sondern als einen sozialen Knotenpunkt, dann könnte er sich zu einem Win-Win-Win-Projekt für viele Gesellschaftsbereiche entwickeln.
Wie Holstein Kiel – in zehn Jahren in die 1. Liga
In den vergangenen Wochen wird in allen möglichen Kontexten die KSV Holstein als Beispiel herangezogen, dass man es, trotz struktureller Nachteile, in die 1. Liga schaffen kann, wenn viele Engagierte, beharrlich, mit ambitionierten Zielen, einem guten Konzept und viel Teamgeist zusammenarbeiten. Für mich, der ich in den 1990er Jahren in einem vor sich hin bröselnden Holsteinstadion davon träumte, dass in der Stadt des THW und der Baltic Hurricanes Fußball überhaupt eine größere Rolle spielt, grenzt der Aufstieg von Holstein in die 1. Fußball Bundesliga an ein Wunder. Was ich damit aber sagen möchte: Heute scheint es noch schwer vorstellbar, dass der Ganztag in Schleswig-Holstein flächendeckend im bundesvergleich in der 1. Liga spielt. Aber wir können es hinbekommen, wenn wir uns jetzt alle gemeinsam – Land, Kommunen, Wohlfahrt, Sport, Jugendverbände, Kulturelle Bildung und Schule – aufmachen und ambitionierte Ziele formulieren sowie realistische Meilensteine für die nächsten zehn Jahre entwickeln. Dann können wir es wie Holstein Kiel auch in zehn Jahren von der dritten in die 1. Liga schaffen. Unsere Kinder, deren Eltern und die positiven Effekte auf viele weitere Politikfelder unseres Bundeslandes sollten es uns wert sein. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen inspirierenden und motivierenden Abend.
Text: Dr. Christian Schmidt-Rost
Kontakt:
LKJ SH – Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Schleswig-Holstein e.V.